Beschreibung
Um 2010, in einer norddeutschen Kleinstadt. Ein Mann tötet sich und seine Familie. Eine ganze Gegend ist erschüttert und fragt sich, wie es dazu kommen konnte. Und im Reihenhaus von Familie Schult gerät das Leben aus den Fugen.
Sehr unterschiedlich begegnen die vier Familienmitglieder, die Söhne Ben und Niko, Mutter Ursula und Vater Frank, den Schicksalsschlägen und hausgemachten Problemen: Weltflucht, Drogen, schwarzer Humor, abstruser Aktionismus – und schließlich auch echte Opferbereitschaft.
Das Lied vom Ende ist ein Familienroman voller Tempo und Perspektivwechsel. Eine Kreuzung aus Coming-of-Age-Story und Ehedrama. Ein vielschichtiges, tragikomisches Buch über die Abenteuer des Zusammenlebens.
Leseprobe
Wie vor jedem Wochenende wartet auch heute neben der Schuppentür ein dicker Stapel Prospekte, die Ben in der Nachbarschaft verteilen muss: Drogeriewerbung. Er packt so viele wie möglich in seinen Rucksack, setzt die Kopfhörer auf und startet die Musik. Bis zur Hauptstraße sind es nur wenige Meter. Schon bei der Parkbank an der Ecke haben sich erste Schweißperlen auf seiner Stirn gebildet. Ein Auto rauscht vorbei, ein zweites rollt gerade vom Hof der Tankstelle. Die glänzenden Silhouetten gleiten wie Quecksilber über die Schaufensterfront des Volkswagenhändlers. Über die des Elektronikfachgeschäfts gegenüber.
Die neonfarbenen Plakate an den Straßenlaternen sind noch dieselben wie vor den Ferien. Die Einfamilienhäuser genauso verschlafen wie immer. Genau wie vor sechs Wochen. Sein Fahrrad hatte einen Platten – Tiefpunkt der ersten Woche nach seiner Rückkehr aus Bristol. Keinen Schimmer, warum er überhaupt noch in die Schule gefahren war, am letzten Tag vor den Ferien. Nur um festzustellen, dass sich in seiner alten Klasse rein gar nichts verändert hat? Dieselben Cliquen, dieselben Sprüche, dasselbe behinderte Verhalten. Dachte er zumindest, bis Sara ihr Hollandrad neben ihm stoppte und ihn ansprach – hier, an exakt dieser Stelle. »Eine Scherbe?«
Ihre großen, braunen Augen.
Ihr dunkles, welliges Haar.
Ihre beinahe weiße Haut.
Eigentlich hätte es ihn direkt umhauen müssen. Doch er kniete bloß auf dem Gehweg und ärgerte sich über seinen geplatzten Reifen. »Wahrscheinlich irgendso’n besoffener Penner.«
Ihr Lächeln daraufhin, mehr aus den Augen als aus den Mundwinkeln. »Mein Vater meint immer, dass er diesen Typen auch gerne mal die Luft rauslassen würde. So oft, wie er mein Rad schon geflickt hat.«
Ihr Vater.
War Ben gestern der Letzte, der ihn lebendig gesehen hat? Und hat Sara wirklich gelächelt, als sie von ihm sprach? Oder waren ihre Worte ein versteckter Hinweis? Ein Hilferuf? Ben stellt die Musik lauter. So laut, dass es weh tut. Doch es reicht nicht. Saras Stimme in seinem Kopf übertönt immer noch alles andere. »Hast du in den Ferien schon was vor?«
Seine Schritte beschleunigen sich wie von selbst. Er biegt von der Hauptstraße ab, holt einen Packen Werbezettel aus dem Rucksack, steuert den ersten Briefkasten an. Er stopft das Papier in den Einwurfschlitz, macht kehrt und rennt los. Springt über Blumenbeete und Jägerzäune, lässt Briefkastendeckel und Gartentore knallen. Schweiß rinnt ihm in die Augen, aber er hält nicht an, wird nicht einmal langsamer. Eine US-Mailbox donnert er beim Zuschlagen fast vom Pfeiler. Er attackiert den nächsten Kasten und den nächsten und den nächsten. Briefkasten auf, Papier rein, Briefkasten zu.
Das mit den Prospekten war Ursulas Idee – damals, als das Thema Englandaustausch aufkam. Niko hatte ohnehin keinen Bock mehr auf den Job und bewarb sich gerade beim Getränkemarkt. Also übernahm Ben die schlecht bezahlte Plackerei. Die immer gleichen Anzeigen für Shampoo, Waschmittel, Schaumfestiger. Im Sommer schwitzt man sich unter der Last der Faltblätter fast zu Tode, im Herbst marschiert man stundenlang durch den Regen und im Winter friert man sich die Fingerspitzen ab. An manchen Nachmittagen, an denen er allein in seinem Zimmer bei der Gastfamilie hockte, fragte er sich, ob die Reise den Aufwand gelohnt hatte. Doch nach seiner Rückkehr nahm er den Job einfach wieder auf wie eine alte Gewohnheit.
Briefkasten auf, Papier rein, Briefkasten zu.
Der erste Straßenabschnitt ist fast geschafft. Seine Schritte werden unwillkürlich langsamer. Über die Kopfhörer läuft jetzt ein Song von Portishead, und er versucht, nicht an Sara zu denken. Versucht nicht daran zu denken, was über sie und ihre Familie in der Zeitung stand. Zwingt sich stattdessen daran zu denken, wie er vor ein paar Monaten dort gewesen ist: in Portishead, der Stadt, nach der sich die Band benannt hat. Von Bristol aus nur ein Katzensprung. Keine Ahnung, was er erwartet hatte. Vielleicht etwas, das er mit der Musik hätte in Verbindung bringen können, irgendwas Existenzielles. Aber Portishead war einfach nur eine kleine Küstenstadt. Mit Yachthafen und einer Menge Bäume. Nichts von dem, was er sah, erklärte die Zerbrechlichkeit und Melancholie in der Stimme der Sängerin. Nach zweieinhalb Stunden stieg er wieder in den Bus – und nahm nichts mit außer einer Tüte Fish ’n’ Chips.
Das flaue Gefühl im Magen.
In der nächsten Seitengasse hat sie gewohnt. Eine Woche nach ihrem zufälligen Treffen wollte er Sara besuchen. Trieb sich beim Prospekteverteilen so lange in der Nachbarschaft herum, bis er sie hinter dem Küchenfenster erblickte. Bester Dinge spazierte er an der Scheibe vorbei und stellte sich vor die Haustür – freudestrahlend, mit einem Drogerieprospekt in der Hand. Sein Schock, als nicht Sara, sondern ihr Vater aufmachte – mit starrem Blick. »Was willst du?«
»Äh … ich wollte Sara kurz hallo sagen.«
»Ist nicht da.«
Bens verwirrte Geste in Richtung Küchenfenster. »Aber …«
»Sara ist nicht da, habe ich gesagt. Und das Altpapier kannst du wieder mitnehmen. Oder kannst du nicht lesen?«
Er deutete auf den Aufkleber auf seinem Briefkasten. Keine Werbung. Mit hochrotem Kopf und gesenktem Blick trat Ben den Rückzug an. Die Einfahrt runter – und ab durch die Mitte. Von Sara hinter dem Küchenfenster nichts mehr zu sehen.
Ob der Besuch etwas damit zu tun hatte, dass ihr Vater durchgedreht ist? Seine Frau Maria J. (37) und die beiden Kinder (Hannes, 18, und Sara, 16) wurden tot in ihren Betten gefunden. Allesamt erstickt, vermutlich mit den eigenen Kopfkissen.
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