Beschreibung
In drei Novellen beleuchtet Ingvild H. Rishøi die Gefühle von Menschen, die ihren Weg in einer Welt von Armut, Unsicherheit und Einsamkeit suchen. Moderne Märchen für jede Jahreszeit.
1 – Wir können nicht allen helfen
Die kleine Tochter bittet ihre Mutter, einem Bettler zu helfen. Aber die weiß nicht einmal, wie sie den Bus nach Hause oder Wäsche für ihr Kind bezahlen soll. Ein Strudel von Wahrheiten und Ängsten, während die Verantwortung für die eigene Tochter erdrückend zu werden scheint.
2 – Der richtige Thomas
Thomas wird aus dem Gefängnis entlassen, am Abend soll sein Sohn zu Besuch kommen. Aber Thomas scheitert bereits daran, ein Kissen für ihn zu kaufen. Die Konfrontation mit den Erwartungen an sich selbst und den Vorurteilen der Außenwelt wird ihm fast zum Verhängnis. Und doch gibt es immer die Möglichkeit, sein Leben zu ändern …
3 – Geschwister
Drei Geschwister, siebzehn, sieben und vier, auf der Flucht, geraten in einer Schneelandschaft in eine immer aussichtslosere Situation. Geht es um eine Mädchenfreundschaft, die den Verlust der heilen Familie kompensiert und gleichzeitig motivierend und zerstörend wirkt? Um eine große Schwester, die nach dem Tod des Vaters die Familie zusammenhält? Oder ist vielmehr sie die Bedrohung für die Familie? Verschwimmende Grenzen in einer alles andere als (ge-fühls)kalten Winterwelt.
Die Direktheit der Sprache Rishøis spiegelt die Verzweiflung und Unsicherheit der Figuren in einer rauen Umgebung, die aber immer auch einen Hoffnungsschimmer zulässt. Themen wie Existenzangst, Verantwortung und menschliche Ausnahmezustände werden in den drei Novellen so gekonnt miteinander verbunden, dass sie die Verletzlichkeit der Gegenwartsgesellschaft eindrücklich wie wenige Erzählungen erfassen.
Leseprobe
WIR KÖNNEN NICHT ALLEN HELFEN
ALS WIR NACH LINDERUD KOMMEN, macht Alexa sich in die Hose. Wir wollten ja den ganzen Weg bis nach Hause gehen, und sie war einverstanden, es habe doch keinen Sinn, wegen fünf Stationen Geld für den Bus auszugeben. Aber jetzt sind wir gerade erst am Einkaufszentrum vorbei, wir haben noch mehr als die Hälfte vor uns.
Ich hatte ja gefragt, ob es in Ordnung sei, zu Fuß zu gehen. Und sie kletterte am Tor zum Kindergarten hoch und sagte: »Na klar, Mama.«
Jetzt sagt sie nichts mehr, aber sie läuft breitbeinig, und ich weiß, sie friert. Es ist Dezember. Ihr Reflektoranhänger, ein Bär, baumelt an ihrer wattierten Jacke.
Sechzig minus fünfundvierzig ist fünfzehn. Ich habe noch fünfzehn Kronen.
Aber ich kann nicht schwarzfahren, nicht mit ihr, denn sie sieht alles, was ich mache, sie beobachtet mich die ganze Zeit, und wenn ich hinten einsteigen will, baut sie sich am Automaten plötzlich vor mir auf und sagt: »Haben wir einen Fahrschein, Mama?«
Und die Häuserblocks glitzern, Alexa watschelt, die Autos dröhnen, und die Laternenmasten sind mit Edding-Tags übersät, ich weiß noch, wie Alex so meinen Namen geschrieben hat, hinter der Sporthalle. Ich sage nichts dazu, dass sie sich in die Hose gemacht hat, aber ich weiß, dass sie zu Hause sofort ins Bad verschwindet, die Tür zuschließt, und nach ein paar Tagen finde ich dann ihre Unterhose, zusammengeknüllt, ganz unten im Wäschekorb. So ist sie, so läuft das, so ist sie.
Aber ich halte es nicht aus, sie so watscheln zu sehen.
»Wir nehmen den Bus«, sage ich.
Sie blickt auf.
»Ja«, sagt sie. »Das ist vielleicht besser.«
Wir drehen um. Das Einkaufszentrum funkelt. Sie haben es rundher-um mit Lichterketten geschmückt, es sieht aus wie ein Geschenk.
Da nimmt Alexa meine Hand und bleibt stehen.
Ein junger Typ steht vor uns. Er lächelt, er ist vielleicht so alt wie ich, er ist hübsch. Er hält einen Pappbecher in der Hand.
»Könnt ihr mir mit ein bisschen Kleingeld helfen?«, fragt er.
Seine Finger sind geschwollen. Alexa drückt fest meine Hand. Ihr tun immer alle so leid, viel zu sehr, wie bei dem Irrsinn mit den Puppen. Sie ist richtig besessen davon, alle müssen die Decke bis zum Kinn gezogen haben, dann liegen sie da am Fußende ihres Bettes, und jede Nacht setzt sie sich zwanzig Mal auf, um nachzusehen, ob es auch ja allen gleich gut geht. Sie muss anders werden. Sie muss mehr wie ich werden.
»Leider nicht«, sage ich und gehe weiter.
Seine Jogginghose ist unten dreckig, und ich schaue auf Alexas Beine, sie bewegt sich so eigenartig und steif. So läuft das. So läuft das, ich erinnere mich an all die Mädchen mit den Kreuzchen im Kalender und der Pille danach in der Geldbörse, so läuft das, wenn man nicht ist wie die. Dort ist die Bushaltestelle. Wir haben sicher noch etwas im Tiefkühlfach, wir kommen sicher klar, so kann sie doch nicht bis nach Hause gehen.
Jetzt blickt sie auf.
»Mama«, sagt sie. »Warum?«
»Warum was?«, sage ich.
Sie denkt immer, ich sei in ihrem Kopf.
Wir stellen uns an die Haltestelle. Ich schaue hinüber zur Ecke, da kommt kein Bus. Jetzt ist ihre nasse Hose bestimmt eiskalt.
»Warum nicht?«, fragt sie.
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